Kristine Bilkau – Die Glücklichen

"buchhandel.de/ Es gibt Bücher, die mich und mein Leben ganz unmittelbar berühren. »Die Glücklichen«, der Debütroman der Journalistin Kristine Bilkau, ist solch ein Buch. Als im Frühjahr die ersten Rezensionen auftauchten, wusste ich sofort, dass ich dieses Buch lesen will.

Sind sie wirklich glücklich die Glücklichen?

Isabell und Georg wohnen in einem nicht genannten Großstadtviertel, das »angesagt« ist für junge Akademikerfamilien und für die Selbständigen in kreativen Berufen. Schon auf den ersten Seiten hatte ich den Berliner »Prenzlauer Berg« vor Augen, die Gründerzeitfassaden, das Grün, die Cafés und die vielen jungen Familien, die mir dort begegnet sind. Isabell und Georg entsprechen jedoch nicht ganz dem Klischee für solche Stadtteile. Sie sind keine Zugezogenen, sondern wohnten schon als Kinder dort. Isabell zog als Zehnjährige mit ihrer Mutter in die Wohnung, in der sie jetzt mit Georg und dem einjährigen Sohn Matti lebt. Georg wuchs im Viertel auf, seine Eltern besaßen einen Laden für »Rundfunk und Fernsehen« und waren angesehene Geschäftsleute bis die großen Elektromärkte ihnen Konkurrenz machten.

Isabell spielt Cello in einem Musicalorchester, Georg arbeitet als Journalist für eine große Tageszeitung. Ihren Sohn Matti betreuen sie wechselseitig, Georg am Abend, wenn Isabell Auftritte hat und Isabell am Tage während Georg in der Redaktion ist. Sie gehören dazu, unterscheiden sich mit ihrer Lebensweise nicht von den meisten Bewohnern des Viertels. Sie leben in einer großen Altbauwohnung, besitzen ein Auto, fahren mehrere Male im Jahr in den Urlaub. Kleidung und Nahrungsmittel, vor allem für das Kind, werden nach ökologischen und nachhaltigen Kriterien ausgesucht. Sie können sich ein angenehmes Leben leisten, müssen nicht darüber nachdenken, ob sie sich den Espresso im Straßencafé leisten können oder die Brötchen, die nicht mehr vom Bäcker kommen sondern aus einer »Brötchenmanufaktur«. Das klingt nach einem perfekten Glück, ist es aber nur für den Betrachter von außen.

Da sind die Veränderungen im Quartier. Die Fassade des Hauses von Isabell und Georg wird als eine der letzten im Stadtteil saniert. Die Handlung setzt ein als ein Baugerüst vor den Fenstern der Wohnung steht. Noch gibt es die alteingesessenen Nachbarn, aber wie lange noch? Im Berliner Stadtteil »Prenzlauer Berg« lag das Durchschnittseinkommen Anfang der 90er Jahre 20% unter dem Ostberliner Durchschnitt, 2007 war es schon auf 5 % über dem Gesamtberliner Durchschnitt geklettert. Weniger als 30% der Stadtteilbevölkerung wohnen seit über zehn Jahren in ihrer Wohnung. Besonders in den teureren Wohngegenden um Kollwitz- und Helmholtzplatz sind heute dreiviertel der erwachsenen Bewohner Akademiker. Laut Marc-Uwe Kling ist wer das Wort Gentrifizierung kennt, Teil derselben. Das trifft sicher auch auf Isabell und Georg zu. Anfangs registrieren beide nur beiläufig die Entwicklungen in ihrer Nachbarschaft. Sie bedauern es, dass die Bäckerei einer Brötchenmanufaktur weichen musste, stehen aber dennoch an, um die Brötchen, die hinter einer Glasscheibe per Hand geformt werden, zu kaufen.

Vor allem ist jedoch Isabells Glück gleich am Anfang des Romans sehr fragwürdig, da die Cellistin sich mit Auftrittsängsten herum quält. Ihr zittern die Hände beim abendlichen Spiel seit sie nach Mattis Geburt wieder in den Beruf eingestiegen ist:

Doch im Theater kehrt die Angst zurück, jeder Abend ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, kein unkontrolliertes Zittern, nein, es kommt auf den Punkt genau, wenn sie verwundbar ist. Als würde sie es selbst hervorrufen. Mit Kügelchen oder Johanneskrautkapseln gegen die Anspannung, vergebliche Versuche, von Betablockern wird sie die Finger lassen, das endet bei ihr mit Schwindel und Übelkeit. Zitat, Seite 79

Mit diesen Problemen ist Isabell nicht allein. Unter Berufsmusikern gehört Lampenfieber, dass auch mit Betablockern bekämpft wird, bei vielen zum Alltag. Der Leistungsdruck ist gerade in diesem Beruf sehr hoch und Isabell, die immer schon darum bemüht war, nichts »falsch« zu machen, hält ihm nicht mehr stand als sie Mutter wird. Um sie herum sind alle damit beschäftigt, sich und auch den Nachwuchs so gut es geht zu optimieren. Keine Schwächen zeigen, Scheitern ist nicht erlaubt.

Im Café jammerten die Mütter, um sich zu verbünden, aber es war ein harmloses Jammern, bevor es wirklich ehrlich wurde, wandelten sich die Gespräche, die Frauen wiegelten ab, es sei ja doch alles schön, und überhaupt, sie steckten das weg, wie, wüssten sie nicht, das wäre halt so… Zitat, Seite 58

Noch sind die Glücklichen glücklich, wenn man Glück allein über Lebensstandard und berufliche Positionen definiert. Der kleine Matti ist eine Glücksquelle für das Paar, auch wenn seine Bedürfnisse und das besondere Betreuungsmodell die Kommunikation miteinander erschweren. Aber über der Idylle scheint ständig die unausgesprochene Frage zu schweben, wie lange sie wohl noch anhält.

Wie lebt es sich mit dieser Angst? Isabell und Georg reagieren vor allem mit der Flucht in Traumwelten, mit weiterer Selbstoptimierung und Verleugnung von Ängsten. Georg schaut sich im Internet gern einsam gelegene Häuser an, die zum Verkauf angeboten werden. Er träumt von einem Leben als Aussteiger. Als Journalist interviewt er einen ehemaligen Manager, der mit seiner Frau als Selbstversorger auf dem Land lebt. Georg schwankt dabei zwischen Bewunderung und Ungläubigkeit, ob es wirklich möglich ist, dass für ihn normale Leben zu verlassen und dabei glücklich zu sein. Isabell sucht im Internet immer wieder die Seite einer Familie mit mehreren Kindern auf und empfindet Neid angesichts dieser scheinbar perfekten Idylle. Dem Zittern beim Cellospiel glaubt sie anfangs mit Autosuggestion begegnen zu können. Schließlich lässt sie sich krank schreiben, redet sich und vor allem anderen ein, dass ihr Arm vom vielen Spielen überlastet ist. Physiotherapie soll helfen. Über ihre Ängste und ihren inneren Stress kann sie mit niemanden reden, selbst mit Georg nicht.

Der soziale Abstieg beginnt schleichend

Noch bekommt Isabell Lohnfortzahlung und Krankengeld. Aber ihr befristeter Vertrag wird nicht mehr verlängert. Georgs Arbeitsplatz wird in Folge der Zeitungskrise weg rationalisiert. Plötzlich sind beide zu Hause. Der Postbote bekommt schnell mit, dass er hier seine Pakete für die Nachbarschaft abgeben kann. Matti erhält überraschender Weise einen Platz in der KITA. Das tägliche Bringen und Holen sowie Isabells Physiotherapiestunden sind die einzigen Routinen in diesem nun sehr gleichförmig gewordenen Alltag. Georg und Isabell fühlen sich plötzlich immer fremder in ihrem Wohnviertel. Die Mütter auf dem Spielplatz fragen sich bestimmt schon, wieso der junge Vater regelmäßig am frühen Nachmittag mit seinem Sohn im Sandkasten sitzt. Die Biokiste wird abbestellt, der Vertrag mit dem Fitnessstudio gekündigt, der Ostseeurlaub findet nicht mehr im Strandhotel sondern in einer engen Ferienwohnung unter dem Dach statt. Auffällig ist, dass Georg und Isabell nicht miteinander sprechen können. Das führt erst zu unausgesprochenen Vorwürfen an den anderen und später zu ausgesprochen Kränkungen. Die Liebe leidet.

Krisenbewältigung

Die Abstiegsängste, den beginnenden Abstieg, das alles beschreibt Kristine Bilkau sehr authentisch. Ein bisschen erinnert mich die allmählich ansteigende Bedrohung der bürgerlichen Existenz, dieses zuerst nur befürchtete dann aber immer wahrscheinlicher werdende Zerbrechen der »heilen Welt« an Judith Hermanns »Aller Liebe Anfang«. Ich kann die Ängste der »Glücklichen« sehr gut nach vollziehen, auch wenn ich älter bin und meine Sozialisation woanders stattfand. Anders als die Generation meiner Eltern, die hier im Osten nach der Wiedervereinigung vielfach entweder arbeitslos wurde, in den Vorruhestand ging oder sich bis zur Rente von einem prekären Job zum nächsten hangelte, waren wir jung genug, um unseren Platz in der Arbeitswelt zu finden. Die gesicherte Lebensexistenz wurde mit den Jahren zur Selbstverständlichkeit, die durch alle Wirtschaftskrisen hindurch auch nie ernsthaft bedroht war. Wir wohnen in einem ähnlichen Viertel wie die Protagonisten von Kristine Bilkaus Roman. Es ist (noch) nicht ganz so hip, es gibt keine Szenekneipen, keine Geschäfte mit Luxusartikeln. Neben den Gründerzeitvillen stehen Plattenbauen in den vom Krieg geschaffenen Baulücken. Als wir hierher zogen waren die Mieten moderat und wir waren die einzigen Interessenten für unsere Wohnung. Seit ein paar Jahren steigen die Mieten rasant, die Autos am Straßenrand werden größer und luxuriöser. Es gibt keine unsanierten Häuser mehr, auf Brachflächen entstehen Wohnparks mit Eigentumswohnungen. Wir mussten mit dem Wort »Eigenbedarf« unsere Erfahrung machen und wie schnell ein subjektives Sicherheitsempfinden verloren gehen kann.

Isabell und Georg sind mir nah mit ihrer Angst vor einer unsicheren Zukunft und ich war sehr neugierig, wie Kristine Bilkau die Beiden ihre ganz persönliche Lebenskrise bewältigen lässt. Irgendwie hatte ich immer die Befürchtung, alles könnte kitschig enden. Isabell findet zum Beispiel einen verschlossenen Tresor in ihrer Wohnung. Ist darin vielleicht ein Schatz verborgen? Aber der Tresor lässt sich nicht öffnen, Georg bekommt auch keine neue Arbeit und Isabell ist vorerst arbeitslos und gibt es auf, irgendwo vorzuspielen. Während sie ihre Situation trotzig verdrängt, ihren aufwendigen Lebensstil weiter pflegt und wenn sie an Grenzen stößt in Depressionen verfällt, sucht Georg panisch nach einem Ausweg. Er denkt zunächst pragmatisch, dass eine Stelle als Lokalreporter an einer Provinzzeitung und ein kleines Häuschen in einer Kleinstadt doch kein Weltuntergang sind. Er beginnt Einnahmen und Ausgaben durch zu rechnen und überlegt, wo gespart werden kann. Als er sich für eine Stelle bei einer Luxus-Immobilienzeitschrift bewirbt, merkt er jedoch das erste Mal, dass sein Pragmatismus Grenzen hat. Isabell ist offenbar überhaupt nicht bereit, seinen Weg mit zu gehen, sie will weiterleben wie bisher. Aber wie soll das gehen? Isabell scheint von Georg zu erwarten, dass er wieder einen gut bezahlten Job findet. Seine zaghaft abtastenden Versuche, auch ein Aussteigerleben in Erwägung zu ziehen, teilt er ihr erst gar nicht mit. Beide können immer weniger miteinander über ihre persönlichen Empfindungen sprechen. Erstaunlich ist es aber, dass Isabell die Selbstoptimierung als Cellospielerin in der persönlichen Krise aufgibt und nicht weiter an den Problemen mit ihrem Arm arbeitet. Das ist sicher zunächst depressiven und resignativen Gefühlen geschuldet, bedeutet für mich aber einen Ausgangspunkt zur Bewältigung der Konfliktsituation.

Schließlich kommt es, wie des Öfteren im Leben, zu einer weiteren Herausforderung und während Georg zunächst eine Art Burnout erleidet, werden in Isabell versteckte Ressourcen geweckt. Endlich können beide auch wieder mehr miteinander reden. Es bleibt dennoch offen, wie Isabells und Georgs Weg weitergehen wird. Eine Patentlösung, wie man mit der zunehmenden Unsicherheit und den schnellen Veränderungen in der Arbeitsumwelt oder auch mit den Verdrängungsmechanismen auf dem Wohnungsmarkt umgehen sollte, bietet Kristine Bilkau nicht an.

In einem Interview rät sie ihren Protagonisten, mehr in der Gegenwart zu leben. Wichtig erscheint es mir, sich zunächst einzugestehen, dass man eigentlich gar keine Veränderung möchte und eine Art Trauerprozess besser ist als die Flucht nach vorn mit unrealistischen Plänen. Ein Leben als Selbstversorgerin oder Auswandern schwebt mir in Krisensituationen auch immer mal vor, realistisch ist das aber nicht und genau betrachtet eher eine Flucht als eine Lösung.

Einen Plan, den hat er trotzdem nicht. Er hat keine Alternativen, und er will sie auch nicht. Er will das Leben mit Isabell und Matti, das sie hier führen. Wenn sie das nicht schaffen, wird es wehtun. Das kann er sich endlich eingestehen: Es wird wehtun, Isabell wusste es die ganze Zeit. Zitat, Seite 292

Wie glücklich sind die Leser mit den »Glücklichen« – Generationenroman oder belanglos?

Im Frühjahr gab es zahlreiche positive Besprechungen der »Glücklichen« in den Feuilletons und auf Literaturblogs, die das Buch teilweise als Generationenroman feierten. Dementsprechend groß war bei vielen die Enttäuschung als das Buch nicht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis erschien.

Inzwischen erhielt Kristine Bilkau aber zwei Literaturpreise für ihr Debüt: den Franz-Tumler-Literaturpreis und den Klaus-Michael Kühne Preis. Gemessen an anderen Büchern, die auf der Longlist standen wie zum Beispiel Anke Stellings »Bodentiefe Fenster« hätte »Die Glücklichen« sicher auch einen Platz auf der Longlist finden können. Die nun gewonnenen Preise erscheinen mir aber passender, zumal diese das beste deutschsprachige Debüt und den besten Nachwuchsschriftsteller ehren.

Sind Isabell und Georg nun typische Vertreter ihrer Generation? Einschränkend würde ich zumindest sagen, dass die »Generation Null Fehler«, wie der Soziologe Heinz Bude die heute 35- bis 45jährigen nennt, vor allem die Angehörigen der akademischen Mittelschicht charakterisiert. Darüber und darunter gibt es zwar auch viel Angst, kennzeichnend für die sogenannte mittlere Gesellschaftsschicht ist aber der Optimierungswahn, die Angst vor Fehlern, vor dem Scheitern. Der Erfolgsdruck, welcher sowohl das Arbeitsleben, die Beziehung und auch die Familie betrifft, verlangt nach Vervollkommnung in allen Lebenslagen. Das erzeugt Versagensängste und Schuldgefühle, wenn plötzlich nicht alles nach Plan verläuft. In einem Interview mit dem »Spiegel« sagt Heinz Bude:

Die Kriegsgeneration hatte das Schlimmste hinter sich, die heute 40-jährigen glauben, dass sie es noch vor sich haben.

Tatsächlich ging es für die Elterngeneration nach dem Krieg wirtschaftlich stetig aufwärts. Es konnte eigentlich nur besser werden oder zumindest so bleiben wie es ist. Technologieveränderungen, Wirtschaftskrisen und gesellschaftliche Veränderungen wie im Osten nach 1990 machten aber zumindest vor den Jahrgängen, die kurz nach dem Krieg geboren wurden, auch nicht Halt. Georgs Eltern, die ein erfolgreiches Geschäft für Rundfunk und Fernsehen im Viertel betreiben, stehen der zunehmenden Konkurrenz durch Elektronikmärkte hilflos gegenüber und müssen schließlich den Laden aufgeben. Sie tun allerdings alles dafür, dass aus ihrem Sohn ein gesellschaftlicher Aufsteiger wird und nehmen für die Finanzierung seines Studiums sogar einen Kredit auf.

Heute geht bei Mittelschichtseltern vor allem die Angst um, dass die Kinder im Erwachsenenleben ihren gesellschaftlichen Status verlieren könnten. Optimierung schon kleiner Kinder, um einen Abstieg auf jeden Fall zu verhindern, ist fast schon gesellschaftlicher Konsens. Woher kommt dieser allgegenwärtige Vervollkommnungswahn? Hier im Osten spielt sicher auch der bei jüngeren Menschen nachwirkende Schock eine Rolle, als nach 1990 massenhaft Arbeitsplätze wegfielen. Es war eine vollkommen neue Erfahrung, dass Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr sicher sind, während es für die »Generation Praktikum« schon zu Beginn ihres Berufslebens offensichtlich wird, dass man ohne Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt nicht bestehen kann. Die heute 35- bis 45jährigen haben jedoch am Anfang ihrer beruflichen Karrieren durchaus noch Sicherheit kennengelernt, auch wenn die großen Krisen schon zu erahnen waren.

Georg und Isabell lassen sich gut dieser »Generation Null Fehler« zuordnen. Hans-Peter Kunisch wirft Kristine Bilkau in seiner Rezension in der Süddeutschen Zeitung sogar vor, sie hätte ihre Figuren zu sehr in Hinblick auf einen Generationenroman angelegt. Die Individualität der Protagonisten komme zu kurz. Auch bei Let´s talk about books, wo das Buch Thema einer teilweise kontroversen Diskussion war, wird kritisiert, dass man zu wenig über die Motivationen der beiden »Glücklichen« erfährt und sie dadurch eher blass wirken.

Mir sind Isabell und Georg mit ihren Ängsten sehr nahe. Ihr scheinbares Desinteresse für die Außenwelt, vor allem bei Isabell, und die Sprachlosigkeit zwischen dem Paar macht sie mir aber auch fremd. Kristine Bilkau meint zur sozialen Isolation ihrer Protagonisten, dass es sowohl dramaturgische Gründe dafür gibt als auch der Familiensituation mit Kleinkind geschuldet ist. Es kann aber auch sein, dass Menschen, die einen starken Optimierungsdrang haben, gar keinen Platz mehr für soziales Engagement außerhalb ihrer vier Wände haben. Der »Generation Null Fehler« wird u. a. auch unpolitisches Verhalten vorgeworfen.

Sicher wären Isabell und Georg noch lebendiger für den Leser, wenn er mehr über ihre Vorgeschichten erfahren würde. Im Fall von Isabell ist mir aber auch mit wenigen Informationen verständlich geworden, woher ihre Angst vor Veränderungen kommen könnte. Sie wuchs in einer Reihenhaussiedlung auf. Alles schien seine Ordnung zu haben. Die Mütter kümmerten sich um das gemütliche Heim, die Väter kamen pünktlich von der Arbeit nach Hause, wuschen ihre Autos und grillten in den Vorgärten. Als Isabell zehn Jahre alt war, flüchtete die Mutter mit ihr zusammen aus dieser spießigen Idylle in die Großstadt. Das Reihenhäuschen gehörte von nun an einer anderen Familie. Isabell konnte sich lange nicht damit abfinden. Sie war entwurzelt ohne ihre vertraute Umgebung. Die Mutter genoss ihre neue Unabhängigkeit und ließ Isabell oft allein in der Wohnung bis sie ganz auszog und der dann fast erwachsenen Tochter die Wohnung überließ, welche diese mit wechselnden Mitbewohnerinnen teilte und jetzt mit Georg und Matti bewohnt. Ich denke, das erklärt vor allem auch, warum Isabell so an ihrer Wohnung hängt.

Georg und Isabell stehen für mich sowohl als Stereotypen für Menschen ihres Alters und ihrer sozialen Situation und haben trotzdem ganz individuelle Lebensgeschichten. Das gesellschaftliche Umfeld befördert zwar ihre Ängste, trotzdem ist die persönliche Widerstandskraft dagegen und der Umgang damit ganz unterschiedlich und hängt im Wesentlichen auch von ihren Vorerfahrungen ab. Im Fall von Georg hätte ich mir da noch mehr Details gewünscht, seine Motivationen vor allem was das Berufsleben betrifft, bleiben zu sehr im Dunkeln.

Die Probleme von Georg und Isabell scheinen angesichts der Nachrichten, die uns täglich mit viel größeren Konflikten überfluten, klein zu sein, lächerlich klein sogar. Selbst demjenigen der schon mehrmals seinen Job, die Wohnung, die Stadt wechseln musste, aus welchen Gründen auch immer, wird es seltsam vorkommen, dass man so verzweifelt wie Isabell an einer Wohnung klammern kann. Trotzdem scheint Kristine Bilkau aber einen Zeitnerv getroffen zu haben. Zukunfts- und Versagensängste sowie Selbstoptimierungstendenzen sind Themen, die viele Menschen beschäftigen. Das beweist die sowohl begeisterte als auch teilweise die ablehnende Aufnahme des Buches bei den Lesern.

Für mich persönlich kam der Roman zur rechten Zeit, überzeugt hat er mich nicht nur durch seine Thematik, sondern durch die vielen ganz authentisch erzählten Szenen und die für mich überzeugende Darstellung der beginnenden Auflösung des Konfliktes. In den Diskussionen zum Buch ist viel davon die Rede, dass man Scheitern und Fehler im Leben zulassen können muss. Ich empfinde es nicht als persönliches Scheitern, seinen Job oder seine Wohnung zu verlieren. Eher sind das in den meisten Fällen Dinge, die passieren ohne das wir viel Einfluss darauf haben. Es kommt vielmehr zunächst darauf an, die Enttäuschung und das Verlustempfinden zu akzeptieren ohne aktionistisch schon wieder Pläne zu machen. Oft hält das Leben dann überraschende Wendungen bereit. Isabell und Georg finden im Buch durch das Erleben der Krise enger als Paar und als Familie zusammen. Isabell hat es gelernt, dem Augenblick in ihrem Leben mehr Bedeutung zu schenken ohne an den Morgen, an dem alles wieder anders sein könnte, zu denken. Eine Erkenntnis, die fast banal erscheint und trotzdem oft so schwer umzusetzen ist.

Ich danke dem Luchterhand Literaturverlag für das Rezensionsexemplar.

6 Gedanken zu “Kristine Bilkau – Die Glücklichen

  1. Xeniana schreibt:

    Eine schöne vielseitige Rezension .Ein dozent sagte mal in einer Vorlesung wir solten uns einstellen auf eine Zeit in der nichts mehr sicher dafür aber viels interessanter ist. Abstieg zu denken ist sicher nicht einfach besonders dann wenn man Sorge trägt für Kinder und doch habe ich beim lesen Isabell manchmal inständig gebeten der realität doch jetzt mal ins Auge zu sehen. Und oft fallen Türen ebenso oft zu wie sich andere öffnen. Ein aktuelles, melancholisches Buch .

  2. Angela schreibt:

    Im Moment wird aus dem Buch gerade bei mdr figaro morgens 9:05 und in der Wiederholung abends 19:05 gelesen. Ich bin gespannt, wie es weitergeht, und kann mich gut in die Situation hineinversetzen. Als meine Töchter 10 und 3 Jahre alt waren, musste ich mit der Wende mein Leben völlig neu ausrichten – Außendienst statt wissenschaftlicher Laufbahn, Kinder eher skeptisch beäugt von Chefs, die vom „normalen Leben“ keine Ahnung hatten… Selbstoptimierung spielte eher keine Rolle, aber die Angst um den Arbeitsplatz eine gewaltige. Meiner älteren Tochter, die die Schule eher locker sah, hab ich für mein heutiges Verständnis viel zu viel Druck gemacht – zum Glück ohne negative Folgen, beide finden sich gut im Leben zurecht. Gelassenheit hab ich bis heute nicht wirklich erreicht, aber ein tiefes Vertrauen darin, dass meine Töchter ihr Leben bewältigen.

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