Michaela Maria Müller »Auf See – Die Geschichte von Ayan und Samir«

Cover.Auf_.See_»Sie wusste, dass sie nicht die Erste war, die diesen Weg auf sich nahm: siebentausend Kilometer auf dem Landweg durch Kenia, Äthiopien, Sudan, Ägypten bis nach Libyen in die Hauptstadt Tripolis und von einem der Strände dort mit dem Boot nach Europa. Die Teilnehmer des Resettlement-Programms wurden gefeiert wie Helden. Doch an diese Möglichkeit wollte und durfte Ayan nicht glauben. Die Wahrscheinlichkeit lag, das wusste sie von Fadumo, bei gerade einmal 0,05 Prozent. … Dadaab und die Not, die sich dort in der Wüste staute, interessierte niemanden. Es blieb bei einer Quote, die bei der zweiten Nachkommastelle endete.«

Dadaab ist die zweitgrößte Stadt Kenias, eine Stadt, die ein Flüchtlingslager ist. Eine halbe Million geflüchtete Menschen aus Somalia leben hier. Seit Anfang der 90er Jahre ist das Land zerrüttet von Bürgerkriegen, ein Zentralstaat existiert nicht mehr, die islamistischen Al-Schabaab-Milizen verbreiten Terror und Angst. Somalia gilt als eines der gefährlichsten Länder der Welt.

Über eine Million Menschen aus Somalia waren 2015 auf der Flucht. Nur wenige von ihnen erreichen Europa. In der Statistik des Bundesamtes für Migration und Flucht gehört Somalia nicht zu den zehn Herkunftsstaaten aus denen 2015 die meisten geflüchteten Menschen nach Deutschland kamen. Genaue Zahlen sind nicht zu erfahren. Etwa 5.000 bis 8.000 Asylanträge von somalischen Staatsbürgern wurden im vergangenen Jahr in Deutschland registriert. Die allermeisten von ihnen nahmen den gefährlichen Weg über das Mittelmeer. Ihre Heimat ist weit weg. Was treibt sie an, nach Europa zu kommen? Wie wird man zu einem »Flüchtling«?

Auf Lampedusa

Dezember 2013. Es ist kalt und stürmisch. Die Fähre nach Lampedusa kann nicht ablegen. Michaela Maria Müller, die als Journalistin u. a. für die »Süddeutsche Zeitung« und »Die Zeit« schreibt, möchte sich ein eigenes Bild machen von der italienischen Insel, auf der immer mehr geflüchtete Menschen stranden. Der Name Lampedusa steht ebenso wie der griechische Ort Idomeni für das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik. Schätzungen gehen davon aus, dass in den vergangenen Jahren von 100 Menschen, die eine Überfahrt über das Mittelmeer wagten, ca. 3 Menschen ums Leben kamen. Im Oktober 2013 war die Welt kurzfristig über ein Schiffsunglück mit 400 Toten vor Lampedusa erschüttert.

Die Autorin begibt sich nach dieser Katastrophe auf Spurensuche und findet eine Insel, die auf den ersten Blick verlassen scheint. Geflüchtete Menschen sind im Straßenbild kaum zu sehen. Nur manchmal fährt ein Polizeitransporter mit Menschen, die vor kurzem im Hafen angekommen sind, in Richtung des Aufnahmelagers. Das befindet sich hinter dem kleinen Flughafen und ist gut bewacht. Ein Besuch des Camps ist nicht möglich. Immer wieder soll es Abschiebeflüge nach Tripolis gegeben haben, die gegen die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention verstießen. Als in Libyen noch eine Regierung an der Macht war, mit der man verhandeln konnte, schloss Italien ein Rücknahmeabkommen ab. Es ging dabei auch um Erdgaslieferungen. Die abgeschobenen Menschen schickten die libyschen Behörden in eine Oasenstadt in der Sahara, in ein Militärlager. Viele versuchten von dort erneut nach Europa zu fliehen. Nicht alle schafften es durch die Wüste, der Weg zu den Stränden des Mittelmeeres ist von Toten umgeben, die niemand beerdigt.

Neben den Segelbooten im Hafen von Lampedusa befindet sich ein riesiger Schiffsfriedhof. An den Stränden, die teilweise von Meeresschildkröten bevölkert werden und deshalb ein beliebter Forschungsort für Meeresbiologen sind, wird immer wieder Treibgut aus havarierten Schiffen angeschwemmt. Die Einwohner der Insel wissen, wann die Fahrt übers Meer am gefährlichsten ist, wissen wie die Toten aussehen. Sie fühlen sich von Europa allein gelassen mit den geflüchteten Menschen. Statt Touristen sitzen Soldaten in den Bars. Als der Papst auf Lampedusa war, fragte er: »Adam, wo bist du?«

Die Journalistin findet in einem Schiffswrack Dinge, die eine Frau mit dem Namen Ayan gehört haben müssen: eine Lebensmittelkarte aus einem Flüchtlingslager, ein Babytragetuch, ein kleiner Kinderschuh…

Die Reportage »Auf Lampedusa« erschien schon 2015 als E-Book beim Frohmann-Verlag. Sie war der Auftakt zum Buch »Auf See«, welches fiktive Elemente, Reportagen und Essays geschickt vereint und sich keiner Literaturgattung zuordnen lässt.

Ayan und Samir

»Waa nabad«, sagte man, wenn man sich gegenseitig nach der Befindlichkeit erkundigte. »Es ist Frieden.« Wo war er? Das halbe Jahr, in dem die Union islamischer Gerichte regierte, hatte so etwas wie Frieden geherrscht, erinnerte sich Ayan. Aber sie hatte nie erfahren, wie es war, wenn er andauerte. Sie war davon überzeugt, dass Frieden erst galt, wenn sich ein Gefühl der Sicherheit im Leben der Menschen ausbreiten konnte.«

Ayan und Samir leben in der Hafenstadt Kismaayo im Süden Somalias. Sie haben vor kurzem geheiratet und erwarten ein Kind. Da Samir einem anderen Clan angehört als Ayan scheiterten die Heiratspläne lange Zeit am Widerstand von Ayans Vater. Ayans Mutter starb bei einem Bombenanschlag auf dem Markt von Kismaayo. Die junge Frau arbeitet als Übersetzerin. Dank des Geldes einer Tante, die durch ein Resettlement-Programm in die USA auswandern konnte, war es ihr möglich, auf einem Internat eine gute Schulbildung zu erhalten. Trotzdem ist dem Paar klar, dass ihr Einkommen nicht ausreichen wird, wenn sie bald zu dritt sein werden. Samir ist Fischer. Seit in Folge des Bürgerkrieges immer mehr Schiffe internationaler Reedereien ohne Erlaubnis in den somalischen Gewässern fischen, sinkt die Fangquote der einheimischen Fischer. Das Meer an den Küsten ist außerdem verschmutzt durch Chemieabfälle, die große Tanker regelmäßig ungehindert abladen sowie durch Giftmüll, der 2010 durch den Tsunami angeschwemmt worden ist.

Samir bekommt schließlich ein lukratives Angebot von einem Freund, der aus Großbritannien zurück gekehrt und in der Zwischenzeit zu einem strenggläubigen Muslim geworden ist. Er tritt eine neue Stelle in Mogadischu an und muss die schwangere Ayan allein zurück lassen. Eines Tages hat sein Chef einen Auftrag an der Küste im Norden Somalias für ihn, der ihm viel Geld einbringen soll und der ihn schließlich ganz ungewollt nach Europa bringt…

Ayan gerät durch eine Freundin, die bei den Truppen der Afrikanischen Union arbeitet und von der Al-Schabaab-Miliz verschleppt wird, ins Visier der Islamisten. Als die Situation für sie immer bedrohlicher wird und die Al-Schabaab-Milizen ihre Heimatstadt erneut einnehmen, flieht sie ins Flüchtlingslager Dadaab in Kenia, wo sie in einem Zelt ihr Kind zur Welt bringt. Da ihre amerikanische Tante, die in den 90er Jahren in demselben Camp lebte, ihr Geld gibt, kann Ayan sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machen…

Die Geschichte von Ayan und Samir wird auf nur wenigen Seiten erzählt. Die Autorin schafft es aber ein glaubwürdiges Bild der Lebenssituation des jungen Paares zu vermitteln. Viele Details aus dem somalischen Alltag lassen den Leser eintauchen in eine fremde Welt, die manchmal weit weg scheint von unseren Erfahrungen aber auch überraschend nah sein kann. Besonders Ayan kann ich mir gut vorstellen. Das Ende ihrer Geschichte ist offen. Ayan und Samir erreichen Europa, ob sie dort wieder zusammen kommen und ein neues Leben aufbauen können, ist fraglich.

Deutschland und Somalia – Geiselbefreiung in Mogadischu und der Piratenprozess in Hamburg

Deutsche Politik hat auch in Somalia ihre Spuren hinterlassen. Diktator Siad Barre, 1969 an die Macht gelangt, hatte zunächst enge Beziehungen zur Sowjetunion. Er machte dem Clan-Unwesen ein Ende. Alle Staatsbürger sollten nur Somalier sein, für die Clan-Zugehörigkeit durfte sich niemand mehr interessieren. Barre führte auch eine Bildungsoffensive durch, in der er die somalische Sprache verschriftlichte. Diese positiven Entwicklungen können aber nicht darüber hinweg täuschen, dass der Diktator grausam gegen seine politischen Gegner vorging und einen jahrelangen Krieg mit Äthiopien führte, der schließlich zum Bruch mit der Sowjetunion führte. Äthiopien war ein enger Freund des sozialistischen Lagers, so dass sich Siad Barre andere Bündnispartner suchen musste.

Die Geiselbefreiung auf dem Flughafen von Mogadischu im Jahr 1977, durchgeführt von der Bundesgrenzschutz-Sondereinheit »GSG 9« kam ihm dabei sehr recht. Der Diktator ließ den Ausländern freie Hand und konnte dafür eine Gegenleistung erwarten. Michaela Maria Müller hat sich die Mühe gemacht in Akten des Auswärtigen Amtes zu recherchieren. Sie berichtet über Details des Deals, welche die Bundesregierung unter Helmut Schmidt mit dem Diktator aushandelte, die der breiten Öffentlichkeit unbekannt sein sollten. Es geht wie so oft um Waffenlieferungen in ein Krisengebiet, die eigentlich verboten sind aber auf vielerlei Umwegen doch ihr Ziel erreichen.

2010 waren Deutschland und Somalia noch einmal gemeinsam in den Schlagzeilen. In Hamburg fand der sogenannte Piraten-Prozess statt. Er dauerte zwei Jahre und kostete den deutschen Steuerzahler 10 Millionen Euro. In Somalia könnten davon über 30.000 Menschen ein Jahr lang leben… Auch über den Piratenprozess hat die Autorin genau recherchiert, u. a. sprach sie mit einem der Verteidiger. In einer fiktiven Handlung beschreibt sie die Situation der Angeklagten, die auf unterschiedliche Weise verstrickt sind in den Überfall des deutschen Containerschiffes.

Hoffnungsschimmer

Michaela Maria Müller widmet ein Kapitel auch dem zivilen Widerstand gegen die Strukturen, die den Bürgerkrieg in Somalia aufrechterhalten. Sie trifft sich mit Aktivisten der somalischen NGO »Anti Tribalism Movement«.

Wenn wir von Somalia sprechen, meinen wir immer das Bürgerkriegsland. Weitgehend unbekannt ist aber, dass es seit 1991 ein Land im Norden Somalias mit dem Namen Somaliland gibt, welches sich in den Grenzen der ehemaligen britischen Kolonie befindet. Das jetzige Somaliland wurde 1960 nach der Unabhängigkeit sofort mit dem ehemaligen Italienisch-Somaliland zu Somalia vereinigt. Seit den 80er Jahren kam es in der Region von Somaliland immer wieder zu blutigen Konflikten mit Diktator Barre. 1988 ließe er die heutige Hauptstadt Hargeisa bombardieren und Hunderttausende Menschen hinrichten. Nach dem Sturz des Diktators entstand 1991 die Republik Somaliland, die allerdings bisher völkerrechtlich nicht anerkannt ist. Die Grenzen zu Somalia sind abgeriegelt und streng bewacht. Im Gegensatz zum restlichen Somalia herrschen in Somaliland seit vielen Jahren Frieden und politische Stabilität. Die Regierungen wurden demokratisch gewählt, die Verfassung ist durch ein Referendum legitimiert. Eindrücke von einer Reise, welche die Autorin nach Somaliland unternahm, kann man hier erhalten.

Literatur und Reportage – eine gelungene Verbindung

Michaela Maria Müller ist gelungen, was mich bei ähnlichen Werken meist nicht überzeugt hat: die Verbindung von Reportage und fiktiven literarischen Elementen in einem Buch. »Auf See« hilft auf eine nicht aufdringliche Weise zu verstehen, was Menschen bewegt, die weit weg von uns leben, uns jedoch in ihren Bedürfnissen nach Frieden, Sicherheit und Wohlstand ganz nah sind. Ayans und Samirs Geschichte wird immer wieder unterbrochen durch reportageartige oder essayistische Abhandlungen über die somalische Geschichte oder die deutsch-somalischen Beziehungen. Doch das hat meinen Lesefluss nicht gestört. Die Autorin ist eine Somalia-Expertin, das kann man sich auch auf ihrer Homepage anschauen. Ihre kenntnisreichen Ausführungen stellen das individuelle Schicksal des jungen Paares in einen größeren Zusammenhang. Wieder einmal wird deutlich, dass wir alle in einer gemeinsamen Welt leben, wo Konflikte nicht nur einen Staat, eine Region betreffen sondern Auswirkungen überall hin haben.

Zum Weiterlesen

https://de.wikipedia.org/wiki/Somaliland

http://www.vitzliputzli.de/  Hompage der Autorin

http://www.vitzliputzli.de/?cat=17 – Texte über Somaliland von Michaela Maria Müller

https://michaelamariamueller.wordpress.com/author/michaelamariamueller/ – Reiseblog Somaliland der Autorin

http://www.nzz.ch/frieden-und-krieg-in-somalia-1.6370948 – Über die letzten Wahlen in Somalialand

http://www.deutschlandradiokultur.de/fluechtlingslager-dadaab-in-kenia-leben-wie-auf-einem.1008.de.html?dram:article_id=355885  – Über die geplante Auflösung des Flüchtlingslagers Dadaab in Kenia

http://frohmann.orbanism.com/post/149142994026/wirduerfennichtwegsehenInterview mit der Autorin

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-10/piraten-verfahren-urteil – Piratenprozess in Hamburg

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