Erich Maria Remarque – Die Nacht von Lissabon

IMG_1860 (2)»Jedes Schiff, das in diesen Monaten des Jahres 1942 Europa verließ, war eine Arche. Der Berg Ararat war Amerika, und die Flut stieg täglich. Sie hatte Deutschland überschwemmt und stand tief in Polen und Prag; Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen, Oslo und Paris waren bereits in ihr untergegangen, die Städte Italiens stanken nach ihr, und auch Spanien war nicht mehr sicher. Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und Existenz. Wer von hier das gelobte Land Amerika nicht erreichen konnte, war verloren.« Zitat, Seite 5/6

Die europäischen Flüchtlingsströme zogen nach Kriegsbeginn immer weiter in den Südwesten Europas, um von dort aus nach Amerika zu gelangen. Die USA waren aber schon vor 1939 als Exilland begehrt. Es gab dort vergleichsweise gute Arbeitsmöglichkeiten und humanere Aufenthaltsbestimmungen als in den europäischen Nachbarstaaten Nazideutschlands. Für ein Einreisevisa wurde jedoch ein Bürge gebraucht, der garantierte, dass der Emigrant dem Staat finanziell nicht zur Last fiel. Außerdem hielten die USA noch nach 1939 an Einwanderquoten fest, als die Zahl der Menschen, die unmittelbar vom Tod bedroht waren wenn sie den Faschisten in die Hände fielen, stark anwuchs und die Lage der europäischen Flüchtlinge immer dramatischer wurde.

1942 war auch Portugal schon längst kein demokratischer Staat mehr. Diktator Salazar regierte das Land nach dem Vorbild des faschistischen Italiens und unterstützte General Franco in Spanien. Portugal galt aber als neutral, machte mit allen Kriegsparteien Geschäfte und war gegen Ende des Krieges vom Sieg der Alliierten überzeugt, so dass diese auf den portugiesischen Azoren eine Militärbasis errichten konnten.

Wer den rettenden Hafen von Lissabon erreichte, hatte meist eine abenteuerliche Flucht aus Internierungslagern in Frankreich und einen kräftezehrenden und gefährlichen Weg über die Pyrenäen hinter sich. Selbst wer dann schon ein Visum für die USA in der Tasche hatte, brauchte noch viel Glück um eine begehrte Schiffskarte zu ergattern und musste Geld haben, um die teure Reise bezahlen zu können.

Der namenlose Ich-Erzähler aus Remarques letztem beendeten Roman besitzt weder Schiffskarten für sich und seine Frau noch amerikanische Visa und Geld für die Überfahrt. Ziellos streift er am Hafen von Lissabon herum und schaut sehnsuchtsvoll auf ein Schiff, dessen glückliche Passagiere schon bald die Reise in die Freiheit antreten werden. Er reagiert misstrauisch als ihn ein fremder Mann anspricht. Zu oft ist er in den letzten Monaten von Polizisten in zivil verhaftet worden, die ebenso harmlos wirkten wie dieser Josef Schwarz, ein Emigrant aus Osnabrück, der ihm zwei Schiffskarten für jenes Schiff, das unten im Hafen liegt, anbietet. Er kann sein Glück kaum fassen, denn der Fremde möchte kein Geld dafür. Josef Schwarz stellt nur eine Bedingung. Er beabsichtigt Lissabon am nächsten Morgen zu verlassen und will in dieser letzten Nacht nicht allein sein. Josef Schwarz möchte seine Erinnerungen mit jemanden teilen, bevor sie vom Gedächtnis verfälscht werden und vielleicht für immer in Vergessenheit geraten. Er hat ein Emigrantenschicksal, das er mit tausenden Menschen teilt, die nach Hitlers Machtergreifung auf der Suche nach einem sicheren Platz durch Europa irren und doch ist seine Geschichte besonders. Sie erzählt nicht nur von Einsamkeit, Entwurzelung, Hoffnungslosigkeit, Trauer und Tod, sondern auch von der Liebe, die es ermöglicht inmitten einer grausamen Welt menschlich zu bleiben.

»Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein gültiger Paß alles« (Zitat, Seite 6)

Der Pass ist ein zentrales Handlungselement in Remarques drittem Exilroman. Josef Schwarz besitzt den Pass eines Wiener Kunstsammlers, dem es gelang, auf »legalem« Weg ins Exil zu gehen, in dem er den Nazis seinen Besitz überließ. Sie lernen sich vor den Bildern der Impressionisten im Pariser Louvre kennen. Als der Wiener Emigrant einen Herzanfall erleidet, übergibt er dem Freund seine Papiere und seinen ganzen Besitz, darunter kleinere Kunstgegenstände, die er über die Grenze schmuggeln konnte. Kurz darauf verstirbt er. Der falsche Josef Schwarz ist nun Inhaber eines gültigen Passes, nur Geburtsjahr und Passfoto lässt er fälschen. Zufällig trägt er sogar denselben Vornamen wie der Verstorbene. An den Nachnamen und an seine neuen Lebensdaten muss er sich zunächst noch gewöhnen, bald jedoch verschmelzen die beiden Identitäten miteinander. Nun eröffnen sich ihm ganz neue Möglichkeiten. War er bisher als illegaler Einwanderer, der zwischen der Schweiz und Frankreich hin und her wechselte, stets auf der Flucht vor polizeilicher Verfolgung, kann er sich nun viel freier bewegen. Er hat einen gültigen Pass, auch wenn dieser genaueren Überprüfungen nicht stand halten würde.

Schließlich wagt er es im Frühjahr 1939 sogar nach Deutschland zurückzugehen, um seine Frau zu sehen, die er vor fünf Jahren verlassen musste. Auf legalem Weg reist er in die Schweiz ein. In das besetzte Österreich geht er noch über die „grüne Grenze“, aber in seine Heimatstadt Osnabrück fährt er als »Urlauber« mit dem Zug wie ein freier Mensch. Dank des Passes und einem gefälschten Empfehlungsschreiben der NSDAP kann er Deutschland fast unbehelligt wieder in Richtung Schweiz verlassen, wo sich inzwischen schon seine Frau Helen befindet, die ebenfalls im Besitz eines gültigen Passes ist. Das französische Konsulat erteilt ihnen problemlos ein Touristenvisum für Frankreich.

Mit Kriegsbeginn werden dort jedoch alle deutschen Staatsbürger interniert, der Pass garantiert kein freies Leben mehr. Nachdem es Josef Schwarz und seiner Frau gelingt aus den Internierungslagern zu fliehen, lernen sie einen Amerikaner kennen, der ihnen Visa für eine Einreise in die USA beschafft. Die Pässe werden wieder wertvoll. Am Schluss des Romans haben sie jedoch für Josef Schwarz ihren Wert verloren, er braucht sie nicht mehr. Helen ist tot und er will sich der Fremdenlegion anschließen.

Er gibt die Pässe weiter an den Ich-Erzähler, dessen Namen der Leser nicht erfährt. Der dritte Josef Schwarz kommt nach dem Krieg nach Europa zurück. Er gibt seinen Pass an einen Russen, der aus der Sowjetunion geflohen ist. Neue Flüchtlingsströme entstehen, der Kampf der Emigranten um gültige Pässe und Visa scheint sich ewig zu wiederholen.

»…Sie wissen, daß kein Visum erteilt wurde, wenn nicht nachgewiesen werden konnte, daß man sehr gefährdet sei, oder wenn man nicht in Amerika auf eine Liste bekannter Künstler, Wissenschaftler oder Intellektueller gesetzt wurde. Als ob wir nicht alle gefährdet gewesen wären – und als ob Mensch nicht Mensch wäre! Ist der Unterschied zwischen wertvollen und gewöhnlichen Menschen nicht eine ferne Parallele zu den Übermenschen und den Untermenschen?«

»Sie können nicht alle nehmen«, erwiderte ich.

»Warum dann nicht die Verlassensten?« fragte Schwarz. »Die ohne Namen und ohne Verdienst?« Zitat, Seite 260

Ein Lieblingsbuch und die späte Entdeckung eines Eingriffs der DDR-Zensur

IMG_1861 (2)»Die Nacht von Lissabon« erscheint bis heute, wie die meisten Remarque-Bücher, in hohen Auflagen in vielen Ländern der Welt. Der Autor ist nach wie vor beliebt bei seinen Lesern. Von der Literaturkritik wurden seine Bücher meist weniger positiv aufgenommen, die Literaturwissenschaft beachtete Remarque lange Zeit fast gar nicht. Seine Popularität wurde vor allem von den deutschen Rezensenten argwöhnisch beobachtet. Ein Autor, dessen Werke auch »Lieschen Müller« verstand, konnte keine wirklich guten Bücher schreiben. Im angelsächsischen Raum dagegen wurden Remarques Bücher von der Literaturkritik meist positiver bewertet. Seine unverschnörkelte Schreibweise erinnerte an die amerikanischen Erzähler der »lost generation«. Remarque mochte Hemingways Bücher und dieser äußerte sich begeistert zu „Im Westen nichts Neues“.

Remarque verstand es unterhaltende Literatur im besten Sinne zu schreiben. Er gestaltete mit einfachen sprachlichen Mitteln, seine Figuren sind authentisch obwohl sie nicht mit ausgeklügelten psychologischen Hintergründen ausgestattet sind. Manche Rezensenten warfen ihm deshalb einen Hang zu Kitsch und Kolportage vor.

Die »Nacht von Lissabon« gehört zu den wenigen Büchern, die ich mehrmals las. Geschichte wiederholt sich nicht wirklich, aber aktuelle Bezüge zum heutigen Europa sind unübersehbar. Dazu kommen eine wirklich spannende Handlung, eine berührende Liebesgeschichte und glaubwürdige Protagonisten.

Ich las »Die Nacht von Lissabon« in einer DDR-Taschenbuchausgabe des Aufbau-Verlages, derselben in der ich den Roman schon in den achtziger und neunziger Jahren gelesen hatte. Durch Zufall entdeckte ich bei Recherchen zu diesem Artikel, dass die DDR-Zensur zwei Sätze am Ende des Buches gestrichen hat. Russen oder besser gesagt Sowjetbürger durften nicht als Emigranten in das Bewusstsein der DDR-Leser dringen obwohl jeder natürlich wusste, dass es sie gab. Da ich noch so manche Lizenzausgabe westdeutscher Verlage im Schrank habe, ist jetzt natürlich mein Misstrauen geweckt. Ich war naiverweise davon ausgegangen, dass Lizenzausgaben ohne Zensureingriffe gedruckt wurden.

Die meisten Bücher von Remarque erschienen auch in der DDR und in Osteuropa in hohen Auflagen. In der Sowjetunion war der Autor während der Stalinzeit zunächst verboten, seit den sechziger Jahren gehörte er dort zu den meistgelesenen deutschsprachigen Schriftstellern. Er galt, wie auch in der DDR, als antifaschistischer bürgerlicher Schriftsteller, der allerdings mit dem hohen Klassenbewusstsein kommunistischer Exilautoren nicht mithalten konnte. Interessanterweise blendeten die Funktionäre vollkommen aus, dass sich Remarque mehrfach ablehnend zum Bau der »Berliner Mauer« und zur Diktatur in den sozialistischen Ländern geäußert hatte. Er ließ sich von keiner politischen Seite vereinnahmen und blieb kontinuierlich seiner humanistischen Grundüberzeugung treu.

Zu den autobiografischen Bezügen des Romans habe ich hier einen Beitrag geschrieben.

Anmerkungen und Quellen

Alle Zitate aus „Die Nacht von Lissabon“ stammen aus der KiWi-Taschenbuchausgabe 151, Kiepenheuer & Witsch, 1997

Wilhelm von Sternburg „Als wäre alles das letzte Mal – Erich Maria Remarque – Eine Biographie“, Kiepenheuer & Witsch, KiWi 581, 1. Auflage 2000: die bisher einzige umfangreiche Biografie Remarques in deutscher Sprache mit Auszügen aus unveröffentlichten Tagebüchern und Briefen

„Erich Maria Remarque – Ein militanter Pazifist – Texte und Interviews 1929-1966“, KiWi-Taschenbuchausgabe 495, Kiepenheuer & Witsch, 1998

6 Gedanken zu “Erich Maria Remarque – Die Nacht von Lissabon

    • Kastanie schreibt:

      Ich war wirklich sehr überrascht über meine Entdeckung und es war eine Bestätigung für mich, dass es sich durchaus lohnt, die Authentiziät von Buchinhalten zu hinterfragen.

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