Peter Stamm – Weit über das Land

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Keine Daunenjacken-Literatur

Peter Stamm, Jahrgang 1963, geboren im Schweizer Thurgau, gehört nicht zu jenen Autoren, die bereits früh ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckten. Nach einer kaufmännischen Lehre arbeitete er wie der Protagonist Thomas in seinem neuen Roman als Buchhalter. Später studierte er einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und war Praktikant in verschiedenen psychiatrischen Kliniken. Der Abbruch des Psychologiestudiums, welches er aus Interesse am Menschen als Gegenstand der Literatur begonnen hatte, war 1990 eine bewusste Entscheidung für den Beruf des freien Autors. Für seine ersten literarischen Versuche suchte er lange vergeblich nach einem Verlag, erst mit dem Roman »Agnes«, der heute Schullesestoff ist, gelang ihm 1998 ein viel beachtetes Debüt.

Ich lernte Peter Stamm als Erzähler kennen. Zunächst war ich etwas irritiert von der sehr knappen Sprache, der mich an amerikanische Autoren erinnerte. Peter Stamm schreibt ohne Ironie, Sarkasmus oder Humor, er beobachtet seine Figuren und beschreibt detailliert, was er zu sehen glaubt. Er psychologisiert niemals, so dass das Innenleben der Protagonisten oft rätselhaft bleibt und zu Spekulationen anregt. In seinen Geschichten spielt er gern mit Möglichkeiten. Am Ende eines Buches, einer Erzählung scheint der Autor nicht mehr zu wissen als der Leser. Peter Stamm sagte in einem Interview, dass er glaubt, dass die Leser in der Vergangenheit zu oft von Autoren betrogen worden, die vermittelten, in die Köpfe ihre Figuren hinein schauen zu können.

Peter Stamms Erzählsprache ist einfach und verständlich, seine Protagonisten sind nicht außergewöhnlich, oft sind es sogar sogenannte »Durchschnittsmenschen«. Aber er schreibt keine Bücher, die man nach dem Lesen weglegt, um dann zum nächsten Buch zu greifen. Hinter einer Art Rahmenhandlung sind Dinge verborgen, die auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind. Hinter Alltagsnormalität stecken verborgene Wünsche und Sehnsüchte, die viel aussagen über unser Leben und die jeder Leser anders deuten wird. Peter Stamm sagt über sein Schreiben, dass er keine »Daunenjacken-Literatur« machen will. Wenn dem Leser kalt ist, soll er sich lieber bewegen statt sich mit einer Daunenjacke zu wärmen. Das könnte auch eine Leseanleitung für seinen neuen Roman »Weit über das Land« sein.

Einfach Weggehen

»Wakefield«, die 1835 erschienene Erzählung des US-Amerikaners Nathaniel Hawthorne diente Peter Stamm als Inspiration für seinen neuen Roman. Ein Mann verlässt eine Frau, bleibt aber trotzdem ganz in ihrer Nähe. Er beobachtet sie täglich aus seiner neuen Wohnung, die nur eine Straße von ihrem Haus entfernt ist. Das Szenario ist etwas unwahrscheinlich aber dennoch faszinierend.
»Alles in Ordnung, also nichts wie weg« titelt der Schweizer »Tagesanzeiger« seine Rezension zu Peter Stamms »Weit über das Land« und endet mit

»Peter Stamm ist der unspektakulärste, aber vielleicht radikalste Analytiker einer Schweiz, die alles hat – aber vielleicht vergessen, wozu. Und die vor lauter saturierter Leere zu Erstaunlichem fähig ist. Eine Schweiz zum Fürchten.«

Damit ist dann schon fast alles zur Rahmenhandlung gesagt. Ungeheuerliches geschieht. Ein Mann verlässt seine Familie. Das kommt wohl öfter vor, aber Thomas, der Protagonist des Romans hat scheinbar keinen wirklichen Grund dafür. Nach einem gelungenen Familienurlaub sitzt er abends zusammen mit seiner Frau vor seinem Eigenheim. Als die Frau noch mal ins Haus muss, stellt er sich vor wie der nächste Morgen aussehen wird. Die Kinder gehen zur Schule, danach macht auch er sich auf den Weg zu seiner Arbeit, einer Steuerkanzlei. Er trifft wie fast jeden Morgen eine Nachbarin, die ihn grüßt, »als sei alles in Ordnung, als würde immer alles so weitergehen«. Nach diesem gedanklichen Vorspiel steht Thomas auf, läuft zum Gartentor, macht es ohne Geräusche auf und läuft davon, immer weiter und weiter weg aus seinem bisherigen Leben.

Viele Rezensenten rätselten, warum Thomas das macht, warum er aus seinem vermeintlich guten Leben davon läuft. Es sind keine Gründe zu erkennen, die seine Entscheidung moralisch rechtfertigen würden. Verständlich ist seine Entscheidung dennoch, finde ich. Man braucht dafür nicht einmal sehr zwischen den Zeilen zu lesen. Schon auf der ersten Seite ist sein Grundstück als ein »dunkles Verlies« beschrieben, »aus dem es kein Entkommen mehr gab«. Thomas hat seine große Liebe geheiratet, er hat einen gut bezahlten Job, sein Elternhaus hat er mit viel Mühe saniert, zwei Kinder machen das Glück perfekt und doch, soll das schon alles gewesen sein?

»Dann saßen sie ihm gegenüber, der Schreiner oder Schlosser oder der Metzger und sein Sohn, der das Geschäft übernehmen sollte. Sie redeten über Geld, über Liegenschaften und Inventare und nötige Investitionen, aber nie darüber, worum es wirklich ging. Weshalb das alles? In der täglichen Anstrengung war keine Zeit, sich solche Fragen zu stellen, vielleicht fürchteten sie sich auch davor oder sie hatten eingesehen, dass diese Fragen nicht zu beantworten waren und deshalb nicht gestellt werden durften. Thomas wusste nicht, ob er sie dafür bewundern oder verachten sollte.«

Solch ein Glück kann auch zum Gefängnis werden. Manche versuchen sich dann in Extremsportarten, in wechselnden Beziehungen oder betäuben sich mit Alkohol. Andere laufen davon, suchen ein Leben in der Einsamkeit oder träumen zumindest davon.

Peter Stamm, der sich nur selten über die Motivationen seiner Figuren äußert, vermutet, dass Thomas das Vergehen der Zeit nicht erträgt. Nach Jahren der Wanderschaft sagt Thomas über seine Kinder:

»Wenn er an sie dachte, dann immer an die Kinder, die sie gewesen waren, als er sie verlassen hatte. Die letzten Ferien fielen ihm ein, die sie zusammen verbracht hatten, und er erinnerte sich an das Gefühl, das ihn schon damals immer wieder überfallen hatte, dass er ihnen nicht nah genug sein konnte, dass sie sich immer weiter von ihm entfernten, als folgten sie einem Naturgesetz.«

Thomas entfernt sich immer mehr von seiner Familie. Er läuft durch die Schweizer Alpenwelt immer weiter nach Süden, vermeidet so gut es geht menschliche Kontakte. Er will nicht gefunden werden. Obwohl er immer mal wieder an seine Frau und die Kinder denkt, scheint er zufrieden mit seiner Entscheidung zu sein. Peter Stamm stellt keine moralischen Fragen. Es braucht die Verurteilung des Protagonisten nicht, auch wenn sie durch die Kinder und den suchenden Polizisten nebenbei doch zum Ausdruck kommt. Es ist ohnehin jedem klar ist, dass man auf diese Weise keine Familie verlassen sollte. Möglicherweise handelt es sich ja auch nur um eine Phantasie, eine Möglichkeit?

Die Fluchtgeschichte von Thomas wird noch aus einer zweiten Sicht erzählt, aus der Perspektive von Astrid. Sie und die Kinder sind die Verlassenen und haben weit mehr als Thomas mit den Folgen seiner Entscheidung, sich davon zu machen, zu kämpfen. Zunächst versucht Astrid, dass Verschwinden von Thomas auch zu verheimlichen, vor den Kindern, den Arbeitskollegen. Sie ist eine kurze Zeit lang auch nicht sehr beunruhigt, glaubt an eine Auszeit, die sich Thomas genommen hat. Obwohl sie ihn als Durchschnittsmenschen sieht, von dem nicht einmal viele Fotografien existieren, glaubt sie doch, dass er eigentlich ein Abenteurer ist. Jemand, der nach dem jährlichen Urlaub am Meer, dort bleiben will, sich ein anderes Leben vorstellen könnte.

Selbst Astrid erlaubte sich kleine Fluchten in ihrem Leben, sie lässt ihre weinenden Kinder manchmal allein. Aber es ist nur das typische Fliehen vor der Überforderung durch kleine Kinder, mit Schuldgefühlen beladen und nur kurz, insofern vielleicht eher die weibliche Variante.

Schließlich begibt sich Astrid mit Hilfe eines Polizisten auf die Suche nach Thomas. Sie will ihn dann doch nicht kampflos ziehen lassen. Das ist spannend zu lesen, am Anfang verfehlen sich beide jeweils auch nur um ein paar Stunden. Astrid und später die Polizei sind jedoch immer zu spät, Thomas schafft es zu entkommen. Irgendwie gefällt mir das, ich möchte, dass Thomas nicht gefunden wird. Astrid ist traurig, verzweifelt aber wütend kann sie nicht sein. In ihrem Innersten scheint sie zu wissen, dass Thomas trotzdem bei ihr ist, auch wenn er körperlich nicht da ist.

»Thomas schien ihr auf einmal sehr nah zu sein, zugleich fürchtete sie sich vor dem Moment, wo er ihr gegenüberstehen und seine Beweggründe nennen, sich erklären würde. Es war als sei ihre Beziehung durch seine Flucht in jenem Moment eingefroren, an dem sie vor drei Tagen ins Haus gegangen war, um nach Konrad zu schauen. Solange Thomas verschwunden blieb, würde sich nichts verändern. Erst durch seine Rückkehr würde die Zeit wieder zu laufen beginnen. Dann konnte alles geschehen«

Schwerer zu ertragen ist der unausgesprochene Vorwurf der Umwelt an sie, denn Astrid ist diejenige, die verlassen wurde.

Manchmal ähneln sich die Gedanken von Astrid und Thomas in dieser Flucht- und Verfolgungsgeschichte. Astrid befragt zum Beispiel eine Verkäuferin, die Thomas in einem Sportgeschäft bedient hat, als er sich eine Wanderausrüstung kaufte und stellt sich dabei vor, die Frau könnte seine Komplizin sein. Thomas wiederum stellt sich diese Frau in ihrer Wohnung vor und wie er mit ihr ins Bett gehen könnte.

Beim Lesen sind natürlich vor allem diese Fragen im Vordergrund: Wie wird die Geschichte wohl enden? Kommt Thomas zurück, stirbt er vielleicht oder wird er nie gefunden?

Dann geschieht etwas, dass mich zunächst etwas ratlos sein lässt. Die Handlung stoppt und breitet sich dann wieder in zwei Möglichkeiten weiter aus. Das ist auf der einen Seite gekonnt gemacht, auf der anderen Seite hält nicht jede der Varianten einer Plausibilitätsprüfung bis ins letzte Detail stand. Das hat mich ein wenig gestört, auch mit der beschleunigten Handlung danach bin ich nicht ganz zufrieden.

»Neben all den Gedanken, die Astrid in den folgenden Tagen beschäftigen, ließ einer sie nie los: dass das alles nicht wirklich, dass es nur eine von vielen Möglichkeiten war. Manchmal kam es ihr vor, als liege es in ihrer Macht, sich für die eine oder andere dieser Möglichkeiten zu entscheiden.«

Darum geht es gar nicht

Ein Mann verlässt seine Familie – »darum geht es doch gar nicht«, wirft Peter Stamm in einem Interview ein. Worum geht es dann? In seinen Bamberger Vorlesungen mit dem bezeichnenden Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« formuliert er 2014 über die Motivation seines Schreibens:

»Der Text ist oft der Weg, den man beim vergeblichen Suchen nach der Antwort zurück legt«

Welche Frage und welche Antwort könnte »Weit über das Land« stellen und beantworten? Für jeden Leser wird das wohl etwas anderes sein. Für mich wurde beim erneuten Beschäftigen mit dem Text klar, dass es wirklich nicht vordergründig darum geht, warum Thomas seine Familie verlässt. Wichtiger scheint es zu sein, dass er beim Verlassen der satten bürgerlichen Welt einem Gefühl begegnet, das verloren gegangen ist im Laufe des Erwachsenenlebens. Er findet die Gegenwärtigkeit, einen Zustand, den die meisten so nur in ihrer Kindheit erleben:

»Er ging ein Stück am Seeufer entlang, dann setzte er sich ins Gras, um etwas zu essen und sich auszuruhen. Aus der Ferne waren Kuhglocken zu hören. Thomas legte sich hin und fiel bald in eine Art Halbschlaf, in dem Zeiten und Orte verschwammen zu einem glücklichen Gefühl der Allgegenwärtigkeit«.

Das einsame Wandererleben von Thomas hat mich sehr an Marlen Haushofers »Die Wand« erinnert. Auch das Leben der unfreiwillig in ein Einsiedlerleben getriebenen kennt nur Gegenwart. Je länger es anhält, umso weniger Ablenkung braucht es. Thomas bleibt ganz bei sich, geht keine engen Beziehungen ein, nimmt kaum Notiz von der Welt. Hört auf zu lesen, Radio zu hören, Alkohol zu trinken. Im Unterwegssein erkennt er seine Berufung.

»Nach Monaten des Stillstands empfand Thomas endlich wieder das Hochgefühl des Unterwegsseins, die Freude an einer Zukunft, die nicht vorgegeben war und die mit jedem Schritt eine andere Wendung nehmen konnte.«

In den »Bamberger Vorlesungen« erzählt Peter Stamm, dass er das Ende seiner Kindheit als eine Vertreibung aus dem Paradies empfunden hat. Er wuchs in einer gutbürgerlichen Familie auf, die Eltern vermittelten ihm Bildung aber vor allem ließen sie ihm Freiheit. Er wurde nicht von ihren Erwartungen erdrückt, konnte seine Interessen verfolgen, seinen Phantasien nachhängen, ungestört im Wald sich bewegen. Mit 19 Jahren ging er von zu Hause weg und auf einmal stürzte die Welt mit all ihren Normen und Anforderungen auf ihn ein. Das Gefühl von Zeitlosigkeit war verschwunden. Im Schreiben scheint er es wieder zu finden, in dem er seine Figuren diesen Zustand erleben lässt. Schon vor dem Roman »Weit über das Land« hat er dieses Motiv aufgegriffen. Ich erinnere mich an die Erzählung »Im Wald« aus dem Band »Seerücken«, in dem ein Mädchen lange Zeit im Wald lebt ohne entdeckt zu werden.

»Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns« Markus Werner, »Zündels Abgang«

Dieses Zitat aus einem Roman des kürzlich verstorbenen Schweizer Autors Markus Werner, der sich ebenfalls mit dem Thema Weggehen beschäftigt, stellt Peter Stamm seinem Buch voran. Es deutet das zweite Motiv der Handlung an. Astrid und Thomas sind zwar räumlich voneinander entfernt, aber sie sind sich trotzdem nah, so dass es möglich scheint, dass ihr gemeinsames Leben auch nach einer langen Zeit der Trennung ohne Verletzungen fortgesetzt werden kann. Thomas sucht in der Fremde nach keiner neuen Beziehung und Astrid fühlt sich ihm trotz aller Zweifel verbunden:

»Manchmal spürt sie, das er weit weg war, dann stand er plötzlich wieder hinter ihr, so nah, dass sie die Wärme seines Körpers zu spüren glaubte. Sie widerstand der Versuchung, sich nach ihm umzuwenden. Was soll ich machen?, fragte sie ihn nur. Willst du, dass ich dich suche? Dass ich dir nachgehe? Wartest du auf mich? Oder soll ich tun, als sei nichts geschehen? Brauchst du Zeit? Wie viel Zeit? Es gab keine Antwort.«

»Weit über das Land« ist ein vielschichtiges Buch, dass mich sehr lange beschäftigt hat, spannend, verwirrend und wirklich keine Daunenjacken-Literatur. Man muss sich tatsächlich bewegen, um zu erfassen, was unter der Rahmenhandlung verborgen sein könnte.

Zum Weiterlesen

http://www.literaturcafe.de/peter-stamm-im-gespraech-weit-ueber-das-land/
http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/die-kindheit-des-dichters-1.18477449
http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Alles-in-Ordnung-also-nichts-wie-weg/story/15843296
http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/die-verschwundene-welt-1.18700686
http://www.deutschlandradiokultur.de/peter-stamm-weit-ueber-das-land-geschichte-des-ploetzlichen.1270.de.html?dram:article_id=347212
http://www.fr-online.de/literatur/peter-stamm—weit-ueber-das-land–ein-mann-flieht-aus-seinem-leben,1472266,34043784.html
http://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/buecher/autor-im-gespraech/peterstamm-100.html
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2016/05/23/peter-stamm-weit-ueber-das-land-s-fischer-verlag/

4 Gedanken zu “Peter Stamm – Weit über das Land

  1. Marina Büttner schreibt:

    Eine tolle Besprechung! Und gleich erinnerte ich mich auch wieder an die Geschichte „Im Wald“ aus dem Erzählband. Ich meine, in den Erzählungen werden oft ganz ähnliche Fragen an die Leser gestellt.

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