„Atlas der Vorurteile“ von Yanko Tsvetkov

IMG_20140522_083352Passend zum letzten Artikel und dem Thema Europa, wenn auch zu einem ganz anderen Aspekt, fand ich in meinem Bücherregal den Titel »Atlas der Vorurteile«, einem Buch mit satirischen Landkarten von Yanko Tsvetkov, erschienen im Knesebeck-Verlag, 1. Ausgabe von 2013.

Die Sehnsucht nach der großen weiten Welt hinter dem »Eisernen Vorhang«

Der Bulgare Yanko Tsvetkov, geboren im Jahr 1976, träumte schon als Kind von fernen Ländern. Er war enttäuscht, als ihm seine Tante erklärte, dass er leider nicht in das Land mit dem klangvollen Namen und das auf der Landkarte wie ein Stiefel aussah, reisen könne, denn es gehörte zu den kapitalistischen Ländern. So träumte er davon, Italien eines Tages zu befreien. Vorerst musste er sich darauf beschränken, die Atlanten aus dem Keller seiner Großmutter anzuschauen und damit seine Sehnsucht nach der großen weiten Welt zu befriedigen. Er liebte es, eine Seite aus einem Atlas gegen ein Fenster zu pressen, einen Bogen Papier darüber zu legen und die Umrisse der Karte auf das Papier zu pausen. – Eine Methode, die ich als Kind übrigens auch jahrelang praktiziert habe, allerdings eher mit Pferdebildern, die ich dann ausmalte. – Yanko Tsvetkov faszinierten diese Atlanten und er verschob beim Nachzeichnen Ländergrenzen und dachte sich eigene Karten aus.

Europa im Januar 2009

Es war kalt im Januar 2009, jedenfalls in Bulgarien. Der russische Präsident Putin hatte den Zufluss für alle Erdgasleitungen, die durch die Ukraine führten, gesperrt. In Deutschland waren die Auswirkungen dieser Maßnahme nicht zu spüren, es gab genug andere Energielieferanten. In Bulgarien führte die Erdgasdrosselung wirklich zu einem Energieengpass. Um seinen Freunden in der ganzen Welt die politische Situation im Januar 2009 in Europa zu erklären, postete Yanko Tsvetkov aus Spaß eine von ihm gezeichnete satirische Karte im Internet. Sie verbreitete sich rasant und er bekam eine Menge begeisterter Kommentare. Schon eineinhalb Jahre später gab er der BBC in London ein Interview über diese etwas andere Europakarte und das »Mapping Stereotypes«-Projekt über Landkarten mit nationalen Vorurteilen wurde geboren.

»Aristoteles beharrte darauf, dass Frauen weniger Zähne hätten als Männer. Obwohl er zweimal verheiratet war, kam er nie auf den Gedanken, seine Behauptung zu überprüfen und einer seiner Frauen in den Mund zu schauen.« Bertrand Russel, Mathematiker und Philosoph, 1872-1970

Atlas der Vorurteile

Yanko Tsvetkov ist bildender Künstler und Grafikdesigner. Seine berufliche Karriere begann er als Kameramann. Er reiste viel durch die Welt und bezeichnet sich selbst als Kosmopolit. Er kann auch wunderbar schreiben. Ich fand seine Texte, übersetzt von »Das Ü-Team«, München, amüsant und seine Gedanken zu nationalen und historisch geprägten Vorurteilen sehr bereichernd. Zwar wusste ich zum Beispiel, dass die Krankheit »Syphilis« in Deutschland auch die »Französische Krankheit« hieß und das dies natürlich nur eine Gemeinheit dem »Erbfeind« Frankreich gegenüber sein konnte. Allerdings war es für mich neu, dass die Franzosen von der »Italienischen Krankheit«, die Holländer von der »Spanischen Krankheit«, die Russen von der »Polnischen Krankheit« und die osmanischen Türken einfach von der »Christen-Krankheit« sprachen.

Hauptbestandteil des Buches sind natürlich die über 30 Karten, die jeweils die Sicht einer Nation auf andere Länder, Kontinente oder gar die ganze Welt darstellen. Den Anfang machen die Weltsicht des ersten Menschen, eine Karte aus der Perspektive des antiken Griechenlands, des alten Chinas und des Mittelalters. Einige Karten sind den Vorurteilen der USA sowohl gegenüber Europa als auch gegenüber anderen Kontinenten gewidmet. Der Autor zeichnete darüber hinaus auch seine Sicht auf die einzelnen US-Bundesstaaten als Karte. Er widmete sich ebenso den Vorurteilen Israels, des Nahen Ostens, Österreich-Ungarns oder gar Karl des V. Ein großer Teil der Karten beschäftigt sich jedoch mit Europa und wie die einzelnen Länder ihre Nachbarn in der Gegenwart charakterisieren. Manches wurde von der Zeit überholt. Die Sicht von Berlusconi auf Europa zum Beispiel ist schon wieder historisch.

Zum Beispiel Deutschland

Yanko Tsvetkov zeichnet Landkarten auf denen die Ländernamen jeweils durch ein Stereotyp ersetzt werden. So glaubt der Autor zum Beispiel, dass aus der Sicht von Bulgarien Deutschland die »Bundesrepublik Volkswagen« ist, Franzosen ihre deutschen Nachbarn für »Beste Freunde« halten und für die Griechen Deutschland aus »Imperialisten« besteht. Für Italiener sind die Deutschen »Pünktlichkeitsfanatiker«, für Polen »Westliche Streithammel« und für Russen »Konvertierte Nazis«.

Der Autor ist viel in der Welt herum gekommen. Deshalb vertraue ich ihm mal, dass seine Einschätzungen, wie die Nationen sich gegenseitig betrachten, zumindest einen kleinen Funken Wahrheit in sich haben. In einem Interview mit der Welt sagt Yanko Tsvetkov, dass die Klischees, die er benutzt, natürlich sehr subjektiv sind und er auf keinen Fall ernsthafte Studien dazu getrieben hat. Die Quellen für seine Stereotype sind zum Beispiel Gespräche mit Freunden, Filme und Bücher. Manches Vorurteil erscheint mir plausibel oder ich habe es selbst schon so gehört. Andere Klischees kenne ich nicht, vor allem weil mir die Länder, die diese aufstellen, zu unbekannt sind. Interessant wäre es ja schon zu erfahren, wie häufig die vom Autor angenommenen Vorurteile wirklich in den entsprechenden Ländern im Umlauf sind. Die Tendenz zeigt, dass Länder vor allem je unbekannter und weiter weg sie sich von der eigenen Heimat befinden, umso häufiger mit den krudesten Ressentiments oder Glorifizierungen belegt werden. Letztendlich ist natürlich alles Satire und diese als solche nicht bierernst zu nehmen.

Vorurteile sind »intellektuelle Faulheit«

Vom »Atlas der Voruteile« ist vor kurzem auch ein zweiter Teil auf deutsch erschienen. Die englische Originalausgabe ist schon wieder vergriffen. Der Atlas erschien auch auf russisch und spanisch und erhielt überhaupt ein starkes internationales Medienecho. Eine Auswahl der Karten kann man sich hier anschauen.

Natürlich bekommt der Autor zuweilen auch Hass-Mails. Vor allem Nationalisten fühlen sich von den oft nicht schmeichelhaften Zuschreibungen für »ihre« Länder gekränkt.

»Wenn wir uns nicht mit den vorgefertigten Ideen abfinden, die ständig von den Werbeagenturen in unaufhörlichen PR-Kampagnen wiedergekäut werden, und Verantwortung für unsere eigenen Entscheidungen übernehmen, werden wir nicht nur weniger vorschnell urteilen, sondern letztlich auch besser leben. In einer global vernetzten Gesellschaft, in der Informationen schneller als Gedanken strömen, können sich Vorurteile als intellektuelle Faulheit entpuppen.« Yanko Tsvetkov im »Atlas der Vorurteile«, Teil 1, Seite 21

Neulich las ich diesen Artikel und musste einsehen, dass eins meiner Lieblingsbeispiele, um die EU-Bürokratie zu kritisieren, schon längst zum Vorurteil geworden war. Es dürfen wieder krumme Gurken in der EU verkauft werden. Schon seit 2009 gibt es die Einteilung von Lebensmitteln in Handelsklassen nicht mehr.

 

2 Gedanken zu “„Atlas der Vorurteile“ von Yanko Tsvetkov

  1. saetzebirgit schreibt:

    Toller Beitrag. Und: Das mit der Gurke war auch noch ein Vorurteil in meinem Kopf. Weil man zu faul ist, manchmal, sich richtig zu informieren. Sehr selbstkritisch und Besserung gelobend – viele Grüße von Birgit.

    • Kastanie schreibt:

      Danke. Vielleicht ist es auch nicht nur Faulheit, wenn wir an manchen Vorurteilen festhalten. Es spricht sich halt auch nicht so schnell rum, wenn sich mal wieder etwas zum Positiven gewendet hat. Irgendwie ist ja oft auch nur eine schlechte Meldung eine Nachricht wert. Viele Grüße, Claudia

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