Jenny Erpenbeck – GEHEN, GING, GEGANGEN

"buchhandel.de/Ich war lange unentschlossen, ob ich das Buch lese oder nicht. »Gehen, ging, gegangen« stand 2015 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und widmet sich einem Thema, das spätestens seit dem Sommer des letzten Jahres die deutsche Gesellschaft in allen Facetten beschäftigt: Menschen auf der Flucht und ihr Ankommen in unserem Land. Entsprechend kontrovers wurde das Buch diskutiert. Zwar waren sich die Rezensenten einig darüber, dass die Autorin ein wichtiges Thema anspricht, aber viele hatten Zweifel an der literarischen Umsetzung. Iris Radisch, die in der »Zeit« in Frage stellte, ob die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch überhaupt Schriftstellerin ist, ordnete auch »Gehen, ging, gegangen« als eher journalistisches Werk ein. Jenny Erpenbeck hat eigene Erlebnisse mit geflüchteten Menschen in ihrem Roman verarbeitet. Ihr Protagonist Richard, ein emeritierter Ostberliner Professor für alte Sprachen, erscheint mir nicht immer glaubwürdig. Das Buch enthält viele Fakten zum Asylrecht in Deutschland und zur Situation in den Ländern, aus denen die Menschen geflohen sind. Manche Leser fühlten sich dadurch belehrt. Die Schicksale der geflüchteten Männer sind sicher fiktionalisiert aber nicht wirklich »ausgedacht«. Aber wie viel Fiktion muss ein Roman eigentlich enthalten um als solcher zu gelten? Weiterlesen

Kristine Bilkau – Die Glücklichen

"buchhandel.de/ Es gibt Bücher, die mich und mein Leben ganz unmittelbar berühren. »Die Glücklichen«, der Debütroman der Journalistin Kristine Bilkau, ist solch ein Buch. Als im Frühjahr die ersten Rezensionen auftauchten, wusste ich sofort, dass ich dieses Buch lesen will.

Sind sie wirklich glücklich die Glücklichen?

Isabell und Georg wohnen in einem nicht genannten Großstadtviertel, das »angesagt« ist für junge Akademikerfamilien und für die Selbständigen in kreativen Berufen. Schon auf den ersten Seiten hatte ich den Berliner »Prenzlauer Berg« vor Augen, die Gründerzeitfassaden, das Grün, die Cafés und die vielen jungen Familien, die mir dort begegnet sind. Isabell und Georg entsprechen jedoch nicht ganz dem Klischee für solche Stadtteile. Sie sind keine Zugezogenen, sondern wohnten schon als Kinder dort. Isabell zog als Zehnjährige mit ihrer Mutter in die Wohnung, in der sie jetzt mit Georg und dem einjährigen Sohn Matti lebt. Georg wuchs im Viertel auf, seine Eltern besaßen einen Laden für »Rundfunk und Fernsehen« und waren angesehene Geschäftsleute bis die großen Elektromärkte ihnen Konkurrenz machten. Weiterlesen

Anne von Canal – Der Grund

Der Grund»Der Grund« ist der Debütroman von Anne von Canal (Jahrgang 1973). Sie arbeitete einige Jahre in verschiedenen Verlagslektoraten und auch als Übersetzerin. Anne von Canal (kein Künstlername sondern der Name ihres Mannes) studierte Germanistik und Anglistik, fühlte sich aber beim nachmittäglichen Jobben in einer Buchhandlung wohler als in der Uni. Erst als sie auch das Studienfach Skandinavistik belegte, entwickelte sie Leidenschaft für das wissenschaftliche Arbeiten mit Literatur. Ein Jahr lebte sie in Oslo. Folgerichtig ist die Handlung ihres Romans auch größtenteils in Skandinavien angesiedelt, in Schweden und Estland. Inzwischen gibt es das Buch auch in estnischer Übersetzung.

»Der Grund« erschien im mareverlag Hamburg, von dem ich bisher nur die Zeitschrift »mare« mit dem anspruchsvollen Layout und den beeindruckenden großformatigen Fotos zu maritimen Themen kannte. So ist es wahrscheinlich auch nicht verwunderlich, dass die typographische Gestaltung des Buches keine Massenware ist und mir sehr gut gefällt. Weiterlesen

Gesellschaft der Angst

„Asylring“ am Eingang zu Notre Dame in Paris: Wer ihn erreichte, entging vorläufig seinen Verfolgern. Foto: Myrabella Wikimedia Commons CC-BY-SA-3.0 & GFDL

„Asylring“ am Eingang zu Notre Dame in Paris: Wer ihn erreichte, entging vorläufig seinen Verfolgern. Foto: Myrabella Wikimedia Commons CC-BY-SA-3.0 & GFDL

Der Winter war kalt in Dresden. Frierend stand oder lief ich einige Male mit meist nur wenigen Menschen, die ein Zeichen gegen die Pegida-Aufmärsche setzen wollten. Oft sah ich keine mir bekannten Gesichter, wenige Menschen nur, die in meinem Alter waren, wenige nur aus der sogenannten bürgerlichen Mitte. Ich erinnere mich an einen Sonntag, an dem wieder nur ein kleines Grüppchen von Menschen auf dem Dresdner Schlossplatz zusammen kam während auf dem benachbarten Theaterplatz mehrere tausend Menschen, den Parolen der Pegida-Aktivisten applaudierten. Weiterlesen

Bücherkoffer Nr. 27

Hängebett

Zum Lesen gut geeignet – ein Hängebett in unserem Urlaubsdomizil

Kürzlich hatte ich die Gelegenheit auf »Philea’s Blog« in der schönen Reihe »Bücherkoffer« Gedanken zu meiner Urlaubslektüre zu veröffentlichen. Vielen Dank noch mal dafür, liebe Petra.

Claudias Blog Über den Kastanien gehört zu jenen Blogs, die die Behauptung, Blogartikel müssten kurz sein, um gelesen zu werden, für mich aufs Schönste widerlegen. Denn ihre Beiträge sind so interessant, dass ich sie auch und besonders wegen ihrer Ausführlichkeit schätze. Ihren Bücherkoffer packt Claudia ebenfalls nicht so nebenbei.

Zum vollständigen Text geht es hier

Kafka in Berlin

Wenn es möglich wäre, nach Berlin zu gehn, selbständig zu werden, von Tag zu Tag zu leben, auch zu hungern, aber seine ganze Kraft ausströmen lassen statt hier zu sparen oder besser sich abzuwenden in das Nichts! (Franz Kafka, Tagebuch vom 5. April 1914)

Franz Kafka 1923, Bildquelle (1)

Paris und Berlin waren die Sehnsuchtsorte der Prager Intellektuellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In Ihrer Heimatstadt lebten sie isoliert und Wien, die Hauptstadt der Donaumonarchie Österreich-Ungarn, war für Kafka ein »absterbendes Riesendorf«.

Im Herbst 1910 fuhr Kafka nach gründlichen Vorbereitungen zusammen mit seinem Freund Max Brod und dessen Bruder nach Paris. Auf dieser Reise wurde er jedoch krank und musste vorzeitig nach Prag zurückkehren. Da er nach seiner Genesung noch einige Urlaubstage zur Verfügung hatte, reiste er im Dezember 1910 kurzerhand allein das erste Mal nach Berlin und genoss dort vor allem das Theaterleben und die vegetarischen Restaurants. Nach seiner Rückkehr schrieb er begeistert an Max Brod: Weiterlesen

Briefe eines Überlebenden

In den Jahren 1940 bis 1945 wurden in die Konzentrationslager Auschwitz mindestens 1,1 Millionen Juden, 140.000 Polen, 20.000 Sinti und Roma sowie mehr als 10.000 sowjetische Kriegsgefangene deportiert. Knapp über 400.000 Häftlinge wurden registriert. Von den registrierten Häftlingen sind mehr als die Hälfte aufgrund der Arbeitsbedingungen, Hunger, Krankheiten, medizinischen Versuchen und Exekutionen gestorben. Die nicht registrierten 900.000 nach Birkenau Deportierten wurden kurz nach der Ankunft ermordet. Als Obergrenze der Todesopfer im Konzentrationslager- und Vernichtungslagerkomplex Auschwitz wird die Zahl von 1,5 Millionen Opfern angegeben. (aus Wikipedia)

Heute vor 70 Jahren wurde das KZ Auschwitz durch sowjetische Truppen befreit. Zu den 8.000 befreiten Menschen gehörte auch Otto Frank, der Vater von Anne, deren Tagebuch weltberühmt wurde.

Am 23. Feburar 1945 schickte er seiner Mutter aus Auschwitz ein erstes Lebenszeichen. Auf die Rückseite eines Formulars mit Anordnungen des Lagerkommandanten schrieb er: Weiterlesen

Frohe Weihnachten

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Prag – Blick zur Karlsbrücke © Über den Kastanien

Nun war es monatelang ungewollt ganz still auf meinem Blog. Gern hätte ich über all die Bücher geschrieben, die ich in der Zwischenzeit gelesen habe. Die Texte dazu waren und sind noch in meinem Kopf, aber äußere Lebensereignisse raubten mir die innere Ruhe, die ich zum Schreiben brauche. Ich hoffe, dass ich bald wieder regelmäßig Beiträge veröffentlichen kann und bitte euch noch um ein bisschen Geduld.

Das folgende Gedicht schrieb Kurt Tucholsky 1913, dem letzten Friedensjahr vor dem ersten Weltkrieg. Das Zitat am Ende ist von Arthur Schnitzler: »Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.« Schon vor über 100 Jahren war Weihnachten also auch schon ein Fest, an dem jeder so seine Rolle spielte, um den »Weihnachtsfrieden« nicht zu stören… Weiterlesen

Der letzte Urlaubstag

Ich bin schon für die Reise angezogen, zwischen mir und dem Mälarsee ist eine leise Fremdheit, wir sagen wieder Sie zueinander. (…)
Da steht Gripsholm. Warum bleiben wir eigentlich nicht immer hier? Man könnte sich zum Beispiel für lange Zeit hier einmieten, einen Vertrag mit der Schloßdame machen, das wäre bestimmt gar nicht so teuer, und dann für immer: blaue Luft, graue Luft, Sonne, Meeresatem, Fische und Grog – ewiger, ewiger Urlaub.
Nein, damit ist es nichts. Wenn man umzieht, ziehen die Sorgen nach. Ist man vier Wochen da, lacht man über alles – auch über die kleinen Unannehmlichkeiten. Sie gehen dich so schön nichts an. Ist man aber für immer da, dann muß man teilnehmen. Aus Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in 10 Bänden, Band 9, 1931, Schloß Gripsholm, Rowohlt Verlag, 1960

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Hermann Hesse – Glück

Mit aller Pflicht und aller Moral und allen Geboten macht man einander selten glücklich, weil man sich selbst damit nicht glücklich macht. Wenn der Mensch »gut« sein kann, so kann er es nur, wenn er glücklich ist.

Aus »Hermann Hesse Lektüre für Minuten – Gedanken aus seinen Büchern und Briefen«, Suhrkamp-Verlag 2002, Herkunft des Zitats dort leider nur mit »aus Prosa und Feuilletons aus dem Nachlass« verzeichnet

Sonnenblumenfeld

Sonnenblumen auf unserem„Feld